Jimmy Hartwig
Jimmy Hartwig gastierte im Rahmen des Fußballsozialprojekts "Goals for my future" bei der Vienna auf der Hohen Warte.
FOTObyHOFER

Wien – Jimmy Hartwig wurde von der deutschen Bundesregierung zum EURO-Botschafter bestellt. Vor einigen Tage weilte der 69-jährige Offenbacher in Wien, um das Sozialprojekt "Goals for my future" zu promoten. Auf der Hohen Warte sprach und trainierte er mit Flüchtlingskindern. Hartwig hat einen starken Österreich-Bezug, bezeichnet Ernst Happel als Ziehvater. Mit dem Hamburger SV wurde er dreimal Meister, 1983 gewann er den Meistercup, im Finale gegen Juventus (1:0) war er gesperrt. Hartwig überlebte drei Krebserkrankungen (Hoden, Prostata, Gehirn), wurde Theaterschauspieler. Natürlich nahm er sich Zeit für ein Interview, die EM beginnt ja erst am 14. Juni.

STANDARD: Außenministerin Annalena Baerbock hat Sie zum Fußballbotschafter der EURO 2024 bestellt. Verzeihen Sie das mäßige Wortspiel, aber was sind Ihre Botschaften?

Hartwig: Alle die Dinge, die ich mein ganzes Leben mache, vermitteln. Respektvoll mit den Menschen umgehen, Menschen auf Augenhöhe begegnen und sie nicht ausgrenzen. Egal, welche Hautfarbe, welchen Glauben und welche sexuelle Orientierung sie haben. Man muss sogar das Gedankengut anderer akzeptieren, es sei denn, es ist rassistisch oder rechtsradikal. Aufgrund meiner dunklen Hautfarbe bin ich ja selbst mit dem ganzen Kram belastet. Belastet ist eigentlich in diesem Zusammenhang ein trauriges Wort. Ich will zeigen, dass Deutschland ein geiles Land ist, sein kann. Habt Spaß am Sport, genießt die Fußballspiele. Und habt Respekt vor dem Gegner.

STANDARD: Wir leben in Zeiten der Kriege, des Klimawandels, der Verschwörungstheorien, des Extremismus, der Ausländerfeindlichkeit, die Gesellschaft ist gespalten. Ist die Annahme, dass der Sport, konkret der Fußball, die Welt verbessern kann, nicht sehr romantisch bis höchst naiv?

Hartwig: Verbessern nicht, aber der Sport und die Musik vereinen trotzdem. Wir können doch zusammen friedlich Fußball spielen und zeigen, dass wir ein Europa sind.

STANDARD: Es gibt große Sicherheitsbedenken, von wegen Terrorgefahr. Macht Sie das traurig?

Hartwig: Es macht mich sehr traurig. Deshalb bin ich gerne bei Amateurvereinen tätig gewesen. Da hast du eine Eitrige und ein Bier in der Hand gehabt, man hat sich gefreut, Fußball zu sehen. Jetzt wirst du im Stadion durchleuchtet wie am Flughafen. Der Happel hat immer zu mir gesagt, es gibt Arschlöcher und keine Arschlöcher. Ich will als Botschafter den Idioten zeigen, dass wir sie nicht brauchen.

STANDARD: Sie bezeichnen Ernst Happel als Ihren Ziehvater. Was hat ihn ausgezeichnet?

Hartwig: Seine Ehrlichkeit, er war ein gerader Mensch. Er ist hinter dir gestanden wie eine Eins. Ich habe unlängst sein Grab besucht. Er hat mich geprägt, durch ihn habe ich im Fußball alles erreicht. "Zieh dein Ding durch", hat er gesagt, "hör nicht auf die Deppen." Er hat sein Leben gelebt, er hat geraucht, Karten gespielt. Egal, er hat Leistung abgeliefert, sich nicht verbiegen lassen.

Ernst Happel
Trainer Ernst Happel präsentiert 1982 die Meisterschale des HSV, daneben (v. li.): Jimmy Hartwig, Bernd Wehmeyer und Horst Hrubesch.
imago/WEREK

STANDARD: Ihr Leben gleicht einer Achterbahnfahrt. Sie haben drei schwere Krebserkrankungen überstanden. Es gibt hunderte Kalendersprüche, einer lautet: Was mich nicht umbringt, macht mich stark. Passt der zu Ihnen?

Hartwig: Ja. Ich hatte einen Großvater, der war Nazi, der hat mich halb totgeschlagen. Das war schlimm, hat mich aber stark gemacht, deshalb habe ich so eine große Fresse. Ich will alles mit Worten regeln. Hört mir also zu, Leute. Jeder Tag, an dem du nicht schon nach dem Aufstehen lächelst, ist ein verlorener Tag.

STANDARD: Muss der Mensch verlieren, um irgendwann zu gewinnen?

Hartwig: Du musst auf die Fresse fliegen. Nur so kannst du Widerstände überwinden. Du musst erkennen, was wichtig im Leben ist.

STANDARD: Nach der Zeit als Profifußballer haben sie diverse Dinge ausprobiert, waren zum Beispiel Vertreter für Kondome.

Hartwig: Einspruch, war ich nicht. Über mich wurde sehr viel Scheiße geschrieben.

STANDARD: Einspruch stattgegeben, aber sie mussten sich neu orientieren. Sie spielten Theater, ganz ohne Schauspielausbildung.

Hartwig: Ja, ich spiele immer noch. In großen Häusern. Mit Thomas Thieme. Brecht und Shakespeare, das ist mein Ding. Das mache ich weiter, bis ich in die Kiste springe.

STANDARD: Sie haben zwei Autobiografien geschrieben.

Hartwig: Die dritte kommt zum 70. Geburtstag.

STANDARD: Suchen Sie das Rampenlicht?

Hartwig: Ja, ich bin eine Rampensau. Ich will den Leuten den Spiegel vorhalten. Viele Menschen lügen sich selbst an. Ich hingegen weiß, dass ich oft Scheiße gebaut habe.

STANDARD: 2004 waren Sie zum Beispiel im Dschungelcamp.

Hartwig: Ja, das war wunderbar, ich habe Geld gebraucht.

STANDARD: Das klingt trotzdem eher schlimm und würdelos als wunderbar.

Hartwig: Pfeif auf die Würde, wenn du 150.000 Euro kriegst. Wenn du davor von angeblichen Freunden um fünf Millionen beschissen wirst, kommt das gelegen. Meine Würde habe ich nicht verloren, weil ich in Deutschland noch keine Mark vom Staat geholt habe.

STANDARD: Mussten Sie im Camp Känguru-Hoden essen oder Koala-Urin trinken?

Hartwig: Nein, ich hatte im Vertrag stehen, dass ich diesen Dreck nicht fressen oder saufen muss. Ich war nur in einer grauslichen Schlangengrube, da bin ich ausgeflippt und gleich wieder rausgegangen.

STANDARD: Sie werden heuer 70. Bleiben Sie ein ewig Suchender?

Hartwig: Na klar. Ich will immer was Neues erleben. Ich liebe das Leben.

STANDARD: Anfang der 90er nach einer Krebsdiagnose dachten Sie an Suizid. Sie gehen offen damit um.

Hartwig: Ja. Es ist alles zusammengekommen, ich wollte mir das Leben nehmen. Ich lag in der Klinik, war verzweifelt. Da hat mich ein sechsjähriger Bub, der auch Krebs hatte, gerettet. Benjamin hieß er. Er hat mich zurückgeholt. Viele fragen mich, wie schaffst du das, immer wieder aufzustehen. Das ist meine innere Kraft. Ich bin dem Tod dreimal von der Schippe gesprungen, jetzt soll er mich in Ruhe lassen.

STANDARD: Hatten Sie mehr Lampenfieber einst als Fußballer oder jetzt als Schauspieler?

Hartwig: Im Theater, da machst du dir in die Hose. Ich hab vor kurzem den Kaiser von Österreich gespielt. Geht das Licht aus beziehungsweise auf der Bühne an, dann musst du marschieren, da gibt es kein Zurück. Beim Fußball bist du nicht alleine. Ein Sicherheitspass auf der Bühne geht nicht.

STANDARD: Vorbilder?

Hartwig: Pelé und Klaus Maria Brandauer.

STANDARD: Haben Sie Tipps für junge Fußballer und Fußballerinnen, wie sie es an die Spitze schaffen?

Hartwig: Sie sollen bei sich selbst bleiben, Fehler abschalten. Wenn sie merken, sie haben Talent, sollen sie nicht größenwahnsinnig werden. Ich sage ihnen: Was ihr in eurem Kopf drinnen habt, kann euch keiner nehmen. Das ist euer Hab und Gut. Nicht jeder kann Fußballprofi werden, aber jeder kann ein anständiger Mensch werden.

STANDARD: Machen Sie sich Sorgen um den Fußball, es geht in erster Linie ums Geld, ums Geschäft?

Hartwig: Ja, die Gehälter müssen runtergehen. Es kann nicht sein, dass ein 20-Jähriger 20 Millionen verdient. In einer Zeit, in der wir in den Pflegeanstalten kein Personal mehr haben. Und viele Leute nicht wissen, wie sie die Miete zahlen sollen. Wir müssen auf die Bremse treten, dürfen unsere Jugend nicht versauen. Da geht es nicht um Saudi-Arabien, das ist eine andere Welt, die haben keine Fußballkultur.

STANDARD: Wer wird Europameister?

Hartwig: Ich glaube mittlerweile, dass Deutschland ganz vorne mitspielen wird.

STANDARD: Was trauen Sie Österreich zu?

Hartwig: Ich will nicht schleimen, aber Ralf Rangnick hat aus Österreich eine geile Truppe gemacht. Okay, ihr habt mit Frankreich, den Niederlanden und Polen eine schwierige Gruppe. Aber ihr könnt sogar die Franzosen wegbügeln.

STANDARD: Ergänzen Sie den Satz: Die Euro ist dann ein Erfolg, wenn ...

Hartwig: ... sie friedlich bleibt. (Christian Hackl, 20.4.2024)