Auf zwei Tellern hat Elenor Yilmaz fein säuberlich Kekse aufgereiht. Aus einer grünen Flasche schenkt sie Mineralwasser in weiße Plastikbecher. Yilmaz, die eigentlich anders heißt, ist noch nicht ganz eingerichtet. Es gibt noch keine Küche, auch noch keine Gläser. Der Kühlschrank und die Kochplatte sind nur geliehen. An Gastfreundlichkeit fehlt es der jungen Frau dennoch nicht.

Gerade für Kinder können Phasen der Wohnungslosigkeit belastend sein, weil sie ein stabiles Umfeld brauchen. Für sie ist der direkte Weg in eine neue Wohnung besonders wichtig.
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Sie setzt sich an den Tisch, lächelt schüchtern und beginnt zu erzählen – davon, wie es sich anfühlt, zum ersten Mal eine eigene Wohnung zu haben, nach Jahren des Haderns, die richtige Entscheidung getroffen zu haben, und von den Freundschaften und dem Selbstvertrauen, die sie dadurch gefunden hat.

Seit sechs Wochen wohnt Yilmaz mit ihren zwei Kindern in ihrer neuen Wohnung. Sie ist eine von jenen Menschen, die durch das Projekt Housing First Österreich der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (Bawo) den Schritt in eine erste eigene Wohnung geschafft haben. Finanziert wird das Projekt mit 6,6 Millionen Euro vom Sozialministerium. Gemeinnützige Bauträger stellen die Wohnungen zur Verfügung, die über Sozialorganisationen an die Wohnungssuchenden vergeben werden. Eine solche Zusammenarbeit – insgesamt sind 25 soziale Organisationen und über 70 Wohnbauträger beteiligt – ist in Österreich zuvor nie da gewesen. Bis September 2024 sollen dadurch mehr als tausend Menschen wieder in einer eigenen Wohnung unterkommen.

Zwischenstation Frauenhaus

So auch Elenor Yilmaz. 17 Jahre lang hat sie in einer Beziehung gelebt, die sie krank gemacht hat. Mehrere Male hat sie überlegt, ihren damaligen Mann zu verlassen. Als sie es endlich wagte, kam sie mit ihren zwei Kindern im Frauenhaus unter und konnte von dort aus auf Wohnungssuche gehen.

"Immer wieder habe ich gehofft, er würde sich ändern. Irgendwann habe ich erkannt, dass das nicht passieren wird, habe Geld gespart und bin ausgezogen", erzählt sie heute. Es sei der schwierigste Schritt gewesen, das alte Zuhause zu verlassen, doch auch ihre Tochter habe sie dazu ermutigt, weil sie gesehen habe, wie traurig ihre Mama war. Nun kann Yilmaz zum ersten Mal selbst über ihr Einkommen bestimmen. "Heute bin ich für meine Tochter ein Vorbild. Wenn ich sie nun ansehe, sehe ich ihre Augen lächeln, sie ist nicht mehr traurig."

Die größte Hürde für Menschen in Yilmaz’ Situation ist der Finanzierungsbeitrag, der bei den ansonsten günstigen Genossenschaftswohnungen anfällt. Deshalb werden diese durch die Gelder aus dem Projekt finanziert, ebenso können Umzugskosten oder die Kaution übernommen werden. Die Miete bezahlen die Betroffenen selbst, und sie stehen auch selbst im Mietvertrag. Sollten sie einmal in Zahlungsschwierigkeiten kommen, ist die soziale Organisation, über die die Wohnung vermittelt wurde, aber ein Ansprechpartner für die Bauträger.

Die Unterstützung ist teilweise nur als Darlehen gedacht, denn die Finanzierungsbeiträge fließen, wenn die Personen irgendwann ausziehen, wieder ans Sozialministerium zurück. Warum ist man nicht früher auf eine solche Lösung gekommen? Lange habe man sich in Österreich nicht damit beschäftigt, was die konkreten Hürden auf dem Wohnungsmarkt eigentlich sind, und stattdessen Wohnungslose übergangsmäßig versorgt, sagt Elisabeth Hammer, Obfrau der Bawo und Geschäftsführerin des Neunerhauses.

Neue Freundschaften

5000 Euro hätte Yilmaz an Eigenmitteln bezahlen müssen, "das hätte ich nicht stemmen können", sagt Yilmaz, die vom niederösterreichischen Verein Wohnen bei der Wohnungssuche unterstützt wurde. Ihre jetzige Wohnung hat sie letztlich selbst gefunden und bald auch die Zusage für die Übernahme des Finanzierungsbeitrags bekommen.

Yilmaz sagt, sie sei auch dankbar für die Zeit im Frauenhaus. "Anfangs war es schwer, mein Sohn wollte immer nach Hause zum Papa, wir haben viel geweint. Aber wir waren in Sicherheit und deshalb glücklich." Bald hätten sich Freundschaften entwickelt. Diese schätzt Yilmaz besonders. Wenn sie davon erzählt, merkt man ihr die Rührung über besondere menschliche Begegnungen an: "Es ist hart, mit Kindern obdachlos zu sein. Bei der Wohnungssuche hatte ich schon fast die Hoffnung aufgegeben." Doch durch die Unterstützung im Frauenhaus habe sie ihr Selbstvertrauen zurückbekommen, sagt sie heute.

Sie führt mit einigem Stolz durch die Wohnung. Im Kinderzimmer hat ihre Tochter Fotos von glücklichen Momenten im Frauenhaus auf die Kastentür geklebt.

Für viele andere Menschen in dieser Situation sind Einrichtungen wie Frauen- oder Wohnhäuser nicht das Richtige. In vielen Ländern ist Housing First daher bereits der Plan A zur Beendigung von Wohnungslosigkeit, erklärt Hammer: Erst komme die Wohnung, danach könnten alle anderen Probleme angegangen werden.

Im sozialen Umfeld bleiben

Für Anna Melnik, die auch anders heißt, wäre ein Frauenhaus keine Option gewesen: "Vielleicht war das so, weil ich aus einer Familie mit vielen Kindern komme. Da gab es kaum Rückzugsorte." Sie hat sich ebenfalls an den Verein Wohnen gewandt, um aus ihrer Gewaltbeziehung in eine eigene Wohnung zu flüchten. Eine zusätzliche Herausforderung: Sie wollte ihre Heimatstadt in Niederösterreich, ihre Freunde, ihr unterstützendes Netzwerk dort nicht verlassen. Auch für sie war der hohe Finanzierungsbeitrag von 13.000 Euro eine Hürde. Als sie schließlich innerhalb eines Monats über Facebook ihre neue Wohnung fand, wurde die Summe vom Projekt übernommen.

Aus ihrer Vergangenheit und ihren Erlebnissen macht Melnik kein Geheimnis: "Es ist wichtig, dass Frauen darüber sprechen, wenn es Gewalt in der Beziehung gibt." Dennoch spüre sie auch heute noch hin und wieder ein Gefühl der Scham. "Es muss wirklich etwas Gröberes passieren, dass ich um Hilfe bitte, man geniert sich einfach", sagt sie.

Die Sorgen, keine Wohnung zu finden, an finanziellen Hürden zu scheitern, haben auch Melnik jahrelang daran gehindert aufzubrechen. "Immer wieder habe ich mir eingeredet, dass es besser wird. Ich war naiv und von mir selbst enttäuscht, dass ich wieder mal in einer Beziehung gelandet war, die nicht funktionierte, dass ich so auf dem Boden war und überhaupt an diesen Punkt gekommen bin." Als sie schließlich die Entscheidung getroffen hat auszuziehen, hat sie das zunächst, aus Angst vor ihrem Partner, geheim gehalten.

Verdeckte Wohnungslosigkeit

20.000 Menschen sind in Österreich als wohnungslos registriert, die Dunkelziffer dürfte doppelt so hoch sein. Verdeckte Wohnungslosigkeit, wie sie Elenor Yilmaz und Anna Melnik erlebt haben, ist laut Bawo-Obfrau Elisabeth Hammer nicht in der Statistik ersichtlich. Die Betroffenen sind nicht offiziell als wohnungslos gemeldet. "Die Frauen haben zwar ein Dach über dem Kopf, aber wollen dort eigentlich nicht mehr leben und können auch nirgendwo anders unterkommen", sagt Hammer.

Häufig würden in diesen Fällen auch Krisensituationen verschleppt – die Frauen seien am Arbeitsplatz benachteiligt, hätten kein eigenes Einkommen, auch psychische Erkrankungen seien oft eine Folge. Bei Kindern könne durch schnell verfügbaren Wohnraum auch Destabilisierung verhindert werden.

Auch heute hat Melnik immer noch Angst. Davor, dass ihr Ex-Partner einfach auftaucht, ihre Schritte und Wege kontrolliert, wie er es früher schon getan hat. "Obwohl es mir besser geht, seit ich meine eigene Wohnung habe, spüre ich, dass ich noch Hilfe brauche."

Ihr altes Zuhause aufzugeben, die Wohnlichkeit, die sie für sich und ihren Ex-Partner dort geschaffen hat, habe wehgetan. Doch auch ihre neue Wohnung hat Melnik nun schon gemütlich eingerichtet. Sie braucht ihren Freiraum, sagt sie, und das ist, was sie an der eigenen Wohnung am meisten genießt.

Österreich könnte Vorreiter sein

Die europäischen Länder haben sich verpflichtet, Wohnungslosigkeit bis 2030 zu beenden. Österreich habe laut Hammer durch die hohe Anzahl an gefördertem Wohnraum das Potenzial, hier Vorreiter zu sein. Es ist allerdings noch ein weiter Weg: Laut Bawo-Hochrechnung bräuchte es 23.000 weitere Wohnungen, damit in Österreich niemand mehr wohnungslos sein muss.

Elenor Yilmaz und ihre Kinder haben den Schritt geschafft. Heute holt ihr Ex-Mann die Kinder regelmäßig am Wochenende ab, um Zeit mit ihnen zu verbringen, und hat die Situation akzeptiert. "Er sieht auch, dass es uns jetzt allen besser geht, wo es die ständigen Streitereien nicht mehr gibt", erzählt sie. Für ihre neue Wohnung hat sie noch große Pläne, will Vorhänge kaufen, sich für den Sommer auf dem Balkon einen Arbeitsplatz einrichten. "Endlich habe ich wieder Träume und Ziele, schaue nach vorne und fühle mich zum ersten Mal in meinem Zuhause wohl und sicher." (Bernadette Redl, 4.5.2024)