Endlich habe ich Tatranské Matliare, zu Deutsch Tatra-Matlarenau, besucht. Die winzige Gemeinde liegt im östlichen Teil des slowakischen Gebirges Hohe Tatra, des höchsten Teils der Karpaten. Wann, wenn nicht jetzt, anlässlich des bevorstehenden hundertsten Todestages von Franz Kafka? Die ganze Welt erinnert sich an den großen Prager und Österreicher, dessen literarisches Werk bis heute eine besondere Wirkung hat und der zu einer maßgeblichen Säulenfigur der modernen europäischen Kultur wurde.

Die Lomnitzer Spitze.
Sie hatte Franz Kafka damals vor Augen: die Lomnitzer Spitze.
IMAGO/Panthermedia

Fast am Ziel wurde ich am Straßenrand von einem riesigen Elefanten in der zerstörten Kinderstadt Rozprávkovo (Märchenland) begrüßt, einem symptomatischen Projekt des Hochgebirges in den Händen oligarchischer Bauunternehmer. In den verfallenen Kiosken wehte der kalte Wind, Müllberge türmten sich auf, ein riesiger Parkplatz blieb völlig leer, und eine verlassene Schmalspurbahn im Wald führte ins Nirgendwo. Ein kafkaesker Einstieg in die Geschichte, absurd, rätselhaft, bedrohlich.

Die Hohe Tatra ist seit Jahrzehnten ein Staat im Staate, eine Schattenwelt, wo sich viele Immobilienunternehmer und skrupellose Investoren als Paten eines mafiosen Makroimperiums entpuppt haben und mächtige Leute in Politik, Justiz und Polizei wie Marionetten lenken. Wie in Kafkas unvollendetem Prozess – albtraumhafte Labyrinthe einer undurchschaubaren Gesetzesmaschinerie und Finsternis, wohin man blickt. Kollateralschaden der vielen Affären: Der Politfrust in einer Region, in der immer mehr autoritäre Nationalisten und Populisten regieren, wächst.

Unglückliche Liebe

Franz Kafka kam mit der Bahn in die Hohe Tatra und fuhr mit einem Pferdeschlitten weiter. Freunde und Verwandte versuchten, ihn zu überreden, seine Lungentuberkulose lieber in einem erstklassigen Wiener Sanatorium behandeln zu lassen, doch er entschied sich für die abgelegenen Berge, um so weit wie möglich von seiner unglücklichen Liebe Milena Jesenská entfernt zu sein ("Sollte es nicht gut sein, dass wir einander zu schreiben jetzt aufhören, müsste ich mich entsetzlich irren. Ich irre mich aber nicht, Milena", schrieb Kafka im Abschiedsbrief an die tschechische Geliebte und seine erste Übersetzerin kurz vor der Abreise.)

Die Villa Tatra, vom legendären Architekten Gedeon Majunke entworfen, in der Kafka seit dem 18. Dezember 1920 wohnte, gibt es leider nicht mehr. Die Ankunft war ein Schock: "Ich stieg aus, im kalten Flur (wo ist die Centralheizung?) niemand ... Ich trete in das Balkonzimmer und erschrecke. Was ist hier vorbereitet? Eingeheizt ist zwar, aber der Ofen stinkt mehr, als er wärmt. Das Mädchen, das ich zum Zimmer rechne und deshalb auch nicht leiden kann, sucht mich zu trösten."

Franz Kafka
Ein in die Länge gezogener Abschied: Franz Kafka.
imago images/KHARBINE-TAPABOR

Kafka zog sofort aus und bezahlte lieber mehr Geld für eine bessere Ausstattung. Die Speisen in der Kantine waren so miserabel und eintönig, dass er sogar seinen strengen Vegetarismus aufgab, Fleisch aß und stolze acht Kilo zunahm. Der Chefarzt, ein Hochstapler, behandelte ihn mit Milch und Sahne ("5 Mal und 2 Mal täglich") und staunte, dass sich der Zustand des Patienten immer weiter verschlechterte. Doch der hypersensible Kafka könnte auch übertrieben haben, seine Affronts gegen "diese empörenden Ärzte" sind legendär: "Karlsbad ist ein größerer Schwindel als Lourdes."

Die Situation hatte sich bald so zugespitzt, dass der beste Freund Max Brod und später sogar auch der Vater, Metzger Hermann Kafka, Franz in der Tatra besuchen wollten, trotz seines äußerst schwierigen Verhältnisses zum Sohn. ("Ich habe nur über dich geschrieben, da habe ich an deiner Brust beklagt, was ich nicht beklagen konnte. Es war ein absichtlich in die Länge gezogener Abschied von Dir.")

Jahre der Erkenntnis

Die Details über Kafkas achtmonatigen Aufenthalt in Matlarenau wissen wir dank einer wertvollen Ausgabe der Hohe-Tatra-Briefe an die Familie und der großen Biografie von Reiner Stach, vor allem aus Teil 3, "Die Jahre der Erkenntnis". Heute gibt es in Matliare nicht viel zu bewundern. An den Besuch des Schriftstellers erinnert nur kleine Tafel, gespendet von einem Pneumologen aus Košice. Das geschlossene große Kurhaus des Militärs (Architekt: Julius Gretzmacher), verwaltet vom slowakischen Verteidigungsministerium, verfällt seit vierzehn Jahren allmählich, auch die Umgebung ist hoffnungslos verwahrlost.

Doch das Wichtigste ist geblieben – der atemberaubende Blick auf den schneebedeckten Großen Ratzenberg, auf die Lomnitzer Spitze und den Mittelgrat. Kafka betrachtete die Gipfel im Sommer oft nackt liegend von seinem Balkon aus, er wusste die idyllische und doch wilde Bergeinsamkeit zu schätzen. "Dafür muss man doch dankbar sein und ich verschweige heute Dinge, für die man nicht dankbar sein muss. Übrigens, wenn jeder Nachmittag so wäre und die Welt mich hier ließe, ich bliebe hier solange, bis man mich mit dem Liegestuhl forttragen müsste", schrieb er an die Lieblingsschwester Ottla Davidová im Juni 1921.

Kafka las viel, schrieb zahlreiche Briefe und verfasste auch einen Artikel – Besprechung der Ausstellung des Malers Anton Holub – für die Karpatenpost, die Zeitung der Minderheit der Karpatendeutschen, auch Zipser Sachsen genannt. Nur wandern konnte er nicht, dafür war er zu schwach. Nach Jahren fand er sogar einen neuen Freund, er wird sein letzter sein. "Ein 21jähriger Medicinstudent, Budapester Jude, sehr strebend, klug, auch sehr literarisch, äußerlich übrigens trotz gröberen Gesamtbildes (Franz) Werfel ähnlich, menschenbedürftig in der Art eines geborenen Arztes, antizionistisch, Jesus und Dostojewski sind seine Führer." Er hieß Robert Klopstock und wohnte später sogar einige Zeit bei den Kafkas in Prag, betreute den kranken Schriftsteller im Sanatorium in Kierling in Klosterneuburg und war auch am 3. Juni 1924 an seinem Sterbebett, wo er seine letzten Tage und Stunden mit der Gabe von Morphium erleichterte. "Töten Sie mich, sonst sind Sie ein Mörder!"

Keine Gesundung

Kafka wurde in der Hohen Tatra nicht gesund. "Der Husten ist noch kaum geringer geworden, aber wohl leichter, er schüttelt mich nicht mehr. Hinsichtlich der Atemkraft schließlich hat sich noch kaum etwas gebessert. Es ist eben eine sehr langwierige Sache ... Auch der Arzt hält eine weitere Besserung für unwahrscheinlich", schrieb er in Briefen.

Früher hielt man Kafkas Aufenthalt in der Tatra für eine unbedeutende Episode, während derer keine neuen literarischen Werke verfasst wurden. Heute wissen wir, dass er gerade in Matliare erstmals verstanden hat, dass sein Tod unmittelbar bevorsteht. Umgeben von Schwerkranken begriff er die Unheilbarkeit seiner Tuberkulose.

In seinen Nachrichten spiegelt sich die wachsende Gewissheit über das Ende wider. Im Zimmer wurde er einmal vom jungen tschechischen Mitpatienten besucht, der ihm mit dem Spiegel seinen tuberkulosekranken Kehlkopf zeigte. Der Schriftsteller taumelte fast ohnmächtig auf den Flur. Ein paar Tage später floh dieser Patient aus der Villa und sprang vor einen Schnellzug.

Krankheit und Krieg

"Jede Krankheit wird schließlich eingeschränkt. Es ist damit so wie mit den Kriegen, jeder wird beendet und keiner hört auf. Die Tuberkulose hat ihren Sitz ebensowenig in der Lunge wie z. B. der Weltkrieg seine Ursache im Ultimatum", schrieb Kafka. Auf der Heimreise fehlte bei der slowakischen Bahn – wie bis heute leider viel zu oft – das zugesicherte Abteil erster Klasse. Der Schriftsteller musste im schrecklichen Gedränge bis zur Stadt Martin stehen und brach fast zusammen.

Unmittelbar nach seiner Rückkehr nach Prag schrieb er an den besten Freund: "Liebster Max (Brod), meine letzte Bitte: alles was sich in meinem Nachlass (also im Bücherkasten, Wäscheschrank, Schreibtisch zuhause und im Bureau, oder wohin sonst irgendetwas vertragen worden sein sollte und Dir auffällt) an Tagebüchern, Manuscripten, Briefen, fremden und eigenen, Gezeichnetem u.s.w. findet, restlos und ungelesen zu verbrennen, ebenso alles Geschriebene oder Gezeichnete, das Du oder andere, die Du in meinem Namen darum bitten sollst, haben. Briefe, die man Dir nicht übergeben will, soll man wenigstens selbst zu verbrennen sich verpflichten."

Dies ist ein bescheidener, aber vielleicht typisch slowakischer Beitrag zur Geschichte der Weltkultur – bei uns beschloss einer der bedeutendsten Autoren aller Zeiten, sein gesamtes unveröffentlichtes Werk zu vernichten. (Michal Hvorecký, 20.4.2024)